Episoden aus 30 Jahren Tierschutz

6. Ein Augsburger Modell für Chemnitz

Eines der drängensten Tierschutzprobleme der unmittelbaren Nachwendezeit war das Thema Stadttauben. Unsere Städte waren in einem furchtbaren baulichen Zustand. Eine riesige Anzahl leerstehender, sanierungsbedürftiger Häuser, teilweise ganze Straßenzüge oder Wohnviertel im Verfallsmodus – ein idealer Lebensraum für die eigentlich Felsen bewohnende Taube.

Trotzdem gab es, wie man heute sagen würde, gewisse „Hotspots“ im Stadtgebiet von Chemnitz – Bus- und Hauptbahnhof, Rathaus, Bernsdorf, Yorkgebiet mit Russenkaserne. Und wie immer in solchen Fällen erschallte schnell der Ruf, die „Ratten der Lüfte“ zu vergiften. Vergessen also die Taube als Glücksbringer oder Friedensengel …
In mühevoller Aufklärungsarbeit warb der Biologe und Experte auf dem Gebiet der Schädlingsbekämpfung, W. Müller vom Landesuntersuchungsamt und der damalige Amtstierarzt der Stadt Chemnitz für ein Umdenken in der „Taubenfrage“. Eine Sisyphusarbeit! Und wer einmal ein Gebäude betreten hat, in dem über Jahre hinweg Tauben in großer Zahl genistet haben, der wird verstehen, warum die Fronten so verhärtet sind.

Da war zum Beispiel das Dachgeschoss im Rathaus über dem Standesamt. Als die mit der Reinigung beauftragte Firma die Tür zum Dachboden öffnete, stürzte kiloweise getrockneter Taubenkot, verrottete Tierkadaver, Federn und zahllose Käfer und Maden herab. Durch eine mehr als 30 cm starke Schicht dieser tierischen Hinterlassenschaften bahnten sich die Mitarbeiter der Spezialfirma in Vollschutz und mit Atemmaske einen Weg über den Dachboden bis zu den defekten Dachfenstern, über die die Tauben einflogen. Fast einen Monat lang wurden täglich in mühevoller und nicht appetitlicher Handarbeit blaue Müllsäcke mit dieser Masse befüllt und abends, nach Ende der Rathausbesuchszeit, mit dem Paternoster abtransportiert – Hunderte von Säcken!

Ähnlich sah es im heutigen Schmidt-Rottluff-Gymnasium in Bernsdorf aus. Dort bogen sich unter einer Last von 8 t Taubenkot die Dachbalken. 6-7 g Taubenkot produziert eine Taube täglich, also etwa 20 kg im Jahr, wobei der Kot immer in Nestnähe abgesetzt wird.

Einen Hotspot besonderer Art hinterließ die Rote Armee bei ihrem Abzug aus den Kasernen an der Heinrich-Schütz-Str. Etwa 500 Tauben wurden dort von Soldaten auf einem offenstehenden Dachboden mit Küchenabfällen gefüttert – und landeten früher oder später im Kochtopf der ehemaligen Sieger, zur Aufbesserung der kärglichen Essenrationen.
Die Überlegungen der Taubenexperten zu einer dauerhaften Bestandssenkung fußten auf drei Säulen:

  1. Sicherung der Gebäude durch planvolle Verbauungen von Hohlräumen und Landemöglichkeiten, ohne Spikes einzusetzen.
  2. Ansiedlung von natürlichen Feinden der Tauben.
  3. Brutkontrolle mittels Taubentürmen.

Durch Einbeziehung der ortsansässigen Wohnungsbaugesellschaften gelang es gerade in der Phase der beginnenden Sanierung der Großplattensiedlungen, Ideen und Möglichkeiten der Taubenprophylaxe in die Sanierungsvorhaben einfließen zu lassen. Dabei ging es darum, Landeplätze an Dachkanten oder auf Simsen zu verbauen und das Einfliegen in die sogenannten Lüftungstrempel unter dem Dachgeschoss zu verhindern. Experimentiert wurde so zum Beispiel im Yorkgebiet und an der Bernsdorfer Straße. Entwickelt wurden Bauweisen, die die Tauben aus den Gebäuden aussperrten, aber den Einflug von Fledermäusen, Mauerseglern und Insekten ermöglichten.

Die Ansiedlung von Greifvögeln als natürliche Feinde auf 11-geschossigen Wohnblöcken wurde mit dem Einbau von Brutkästen z.B. an der Scharnhorst-Straße ausprobiert. Und es funktionierte! Ideal wäre natürlich die Ansiedlung des Wanderfalken gewesen, so wie dieser schnittige Jäger die Hochhausschluchten am Alexanderplatz in Berlin besiedelte. Aber auch sein kleiner Verwandter, der Turmfalke, bringt Effekte. Obwohl er erwachsenen Tauben kaum gefährlich wird, meiden Tauben die Umgebung von Turmfalkennestern, denn unvorsichtige Jungvögel und kranke Tauben verschmäht er nicht. Außerdem bringt er ständig Unruhe in die Schwärme.
Bleibt noch Punkt 3, der Betrieb von Taubentürmen. Einen ersten Bericht über die Nutzung solcher Türme gab es in der Wendezeit in der Zeitschrift „DU UND DAS TIER“. Berichtet wurde aus der Stadt Augsburg. Deshalb ging diese Bewirtschaftungsmethode als „Augsburger Modell“ in die Tierschutzliteratur ein.

Als erste Stadt in Ostdeutschland griff Chemnitz 1992 diese Methode auf. Eine kleine einheimische Firma baute zwei dieser Türme. Einer stand viele Jahre unterhalb des Busbahnhofes und wurde vor einiger Zeit ins Tierheim umgesetzt, als es am alten Standort keine nistenden Tauben mehr gab. Im Tierheim zogen nach kleinen Anpassungsarbeiten zahlreiche Spatzen in den Turm ein. Der zweite Turm fand seinen Platz an der Fürstenstraße, wo er heute noch steht und vom Tierschutzverein betreut wird.
Der Wunschstandort war es eigentlich nicht. Wäre es nach dem Willen der Experten gegangen, dann wäre die kleine Grünanlage auf dem Johannisplatz gegenüber dem „Tietz“ ausgewählt worden, dort, wo später die Saxonia ihr Quartier fand. Die Verantwortlichen, insbesondere die damalig Leitung des Grünflächenamtes, hatten nicht den Mut, etwas Innovatives in die Stadtmitte zu stellen. Das Ergebnis sieht man noch heute – nach wie vor Schwärme von Stadttauben zwischen Rathaus und SMAG. Im Yorkgebiet dagegen hat sich mit dem bewirtschafteten Taubenturm die Situation deutlich entspannt.

Da Parkhäuser Tauben immer magisch anziehen, ist zu erwarten, dass sich nach Fertigstellung der Bebauung am Tietz der Bestand an Tauben weiter drastisch erhöhen wird. Aber vielleicht erinnert sich ein Verantwortlicher der Stadt nach dem Lesen dieser Zeilen daran – mit 30 Jahren Zeitverlust – dass es eine Stadt in Bayern gibt, die kein Problem damit hat, über das ganze Stadtgebiet verteilt, selbst auf und an historischen Gebäuden, Taubenhäuser zu betreiben. Übrigens – die Anschaffungskosten für einen Turm dürften deutlich niedriger sein als die Baukosten für einen Stellplatz in einem Parkhaus. Und das tolle – Augsburg ist nicht allein geblieben, sondern in vielen deutschen Städten ist der Ersatz der Taubeneier gegen Gipsattrappen das erfolgreiche Mittel der Wahl, tierschutzgerecht den Bestand an Stadttauben nachhaltig zu regulieren.

Und demnächst: 7. Ist das Tierliebe?